geb. 21.08.1875 • gest. 19.02.1945
Braunschweiger SPD-Stadtverordneter ab 1903, 1919/1920 Mitglied des Reichstags, Mitglied des Braunschweigischen Landtags 1918 bis 1933, Braunschweigischer Ministerpräsident in den Jahren 1919-1920, 1922 bis 1924, 1927 bis 1930.
Im Hause Bültenweg 85 wohnte der in Dingelbe geborene Heinrich Jasper von 1910 bis 1935. Nach Kindheit in Hildesheim und dem Schulbesuch des Wilhelm-Gymnasiums in Braunschweig hatte er in München, Leipzig und Berlin studiert. Als niedergelassener Anwalt wurde er ab 1903 für die SPD politisch aktiv. Nach dem Kriegsdienst in Russland und der Novemberrevolution wurde er am 10. Februar 1919 in Braunschweig der erste gewählte Präsident des Landtags, setzte den Beschluss der ersten Landesverfassung (22. Februar 1919) durch und trat für Reichseinheit und Föderalismus ein. Als im Land Braunschweig nach dem Generalstreik im April 1919 und der Besetzung durch Freiwilligenverbände des Reiches das politische Leben gelähmt war, konnte er mit dem Vertrauen der Reichsregierung den Vorsitz im Rat der Volksbeauftragten übernehmen und am 30. April 1919 eine Regierung bilden.
Als Landespolitiker führte er die Regierung in verschiedenen Koalitionen und sah als seine besonderen Aufgabenfelder in allgemein kritischer Wirtschaftslage die Sozial- und Bodenreform, eine aktive Schul- und Bildungspolitik, die Abfindung des Herzogshauses sowie die Trennung von Staat und Kirche.
Über seinen Großvater Dr. Konrad Giesker, der vor der politischen Reaktion im Deutschen Bund nach Zürich emigrierte, wurde er in der Familientradition mit den Ideen des Vormärz vertraut. Seine Mutter Alwine Jasper, geb. Giesker, wohnte bei ihrem Sohn bis zu ihrem Tod am 4. November 1926 in diesem Haus.
In der Verfolgung durch die Nationalsozialisten musste er von 1933 bis 1938 und erneut ab 1944 Kerker und KZ-Haft erdulden, der er in Bergen-Belsen erlag. Dort wurde er in einem Massengrab beigesetzt.
Text aus der Internet-Seite der Stadt entnommen, 2015
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Vortrag von Prof. Ernst-August Roloff.
anläßlich der Verlegung eines Stolpersteines für Dr.Heinrich Jasper.
Öffentliche Gedenkveranstaltung im Wilhelm-Gymnasium am 29.6. 2015
Vermutlich bin ich der einzige in diesem Kreise, der Heinrich Jasper noch persönlich begegnet ist. Es war wohl Anfang 1939 – ich war nicht ganz 13 Jahre alt und seit 3 Jahren Schüler des WG- als mein Vater beim Mittagessen zu meiner Mutter sagte, er habe Dr. Jasper in der Stadtbibliothek getroffen und dieser werde ihn an diesem oder dem nächsten Abend in unserer Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Str. – jetzt Jasperallee besuchen, aber es dürfe niemand erfahren. So begegnete ich Jasper bei seinem Eintreffen im Flur, ohne die geringste Ahnung, wer Dr. Jasper ist und war, und zu wissen, weshalb niemand davon erfahren sollte. Meine Mutter, deren wiederholte Erzählungen meine Erinnerungen an diese Zeit wachhielten, sagte lediglich, er sei viele Jahre, wie unser Vater, Landtagsabgeordneter gewesen. Genaueres habe ich erst 11 Jahre später erfahren, als mein Vater 1950 bei einem Staatsakt aus Anlass des 75. Geburtstages von Heinrich Jasper im Staatstheater eine der beiden Gedenkreden hielt. Und damit begann meine intensive Beschäftigung mit Leben und Wirken Jaspers.
Das Bindeglied zwischen Heinrich Jasper und mir ist mein Vater, beide Schüler und Absolventen des WG im Abstand von 10 Jahren. Als mein Vater 1906 das Abitur ablegte und das Neue Herzogliche Gymnasium nach dem letzten Welfenherzog Wilhelm benannt wurde, war Heinrich Jasper bereits promovierter Rechtsanwalt und engagierter Stadtverordneter der Sozialdemokratischen Partei in Braunschweig bekannt. Die Wege kreuzten sich erst, als 1918 beide als Landtagsabgeordnete in die Landespolitik eintraten, der eine als Führer der Sozialdemokratischen Partei, der andere als sein konservativer, deutschnationaler Kontrahent, abwechselnd in der Regierung und in der Opposition – bis 1933 die neuen Machthaber nicht nur die Demokratie beseitigten, sondern auch ihre Gegner, besonders Kommunisten und Sozialdemokraten. Heinrich Jasper wurde in das berüchtigte KZ Dachau eingeliefert und erst Ende 1938 wieder freigelassen, nachdem sich auch einflussreiche Nationalsozialisten für ihn eingesetzt hatten.
Aber er durfte nicht als Rechtsanwalt tätig sein, musste sich regelmäßig bei der Gestapo melden und stand unter ständiger Beobachtung. Schlagartig wurde mir bewusst, weshalb niemand etwas von dem Besuch Jaspers bei meinem Vater erfahren durfte.
Als ich nach dem Tode meines Vaters (1955) begann, sein Leben und seine Rolle in der Politik in der Zeit der Weimarer Republik und des NS genauer zu untersuchen und dabei die Bedeutung Jaspers erkannte, stellte ich fest, dass es eine merkwürdige Parallelität von Jaspers grausamen Lebensende und meinem Leben gab – im Februar 1945:
Am 1. Februar 1945 überschritten die ersten sowj. Truppen die Oder zwischen Frankfurt und Küstrin, d.h. 50 km vor dem Stadtrand von Berlin, ohne auf Widerstand zu treffen. In panikartiger Eile versuchte das deutsche Oberkommando, am Westufer an den sog. Seelower Höhen eine Verteidigungslinie zum Schutze der Reichshauptstadt zu errichten und mobilisierte dazu alle im Großraum Berlin stationierten Reserve- und Ausbildungsstandorte der Wehrmacht.
Gleichzeitig leitete die politische Führung die Evakuierung u.a. der im Großraum Berlin liegenden Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen ein. Hier befand sich der im August 1944 erneut inhaftierte Dr. Heinrich Jasper, der am 4. Februar mit vielen anderen in das KZ Bergen-Belsen verlegt wurde. In den frühen Morgenstunden des 19. Februar brach er dort völlig entkräftet vor seiner Baracke zusammen und erfror. An diesem 4. Februar 1945 wurde ich mit 40 anderen Teilnehmern an einem Offiziersbewerber-Lehrgang der Division „Großdeutschland“ in aller Eile zum Fahnenjunker-Unteroffieren befördert und zur „Frontbewährung“ an die neue Kampflinie auf den Seelower Höhen am Oderbruch in Marsch gesetzt.
An den Seelower Höhen hatte sich inzwischen ein erbitterter Stellungskrieg zu einer der längsten und blutigsten Schlachten des 2. Weltkrieges festgefressen. In der Nacht zum 19. Februar hatte ich, fast zur selben Stunde in der in Bergen-Belsen Heinrich Jasper starb, ein traumatisches Erlebnis: Ich tötete im Schützengraben mit einer Handgranate einen sowjetischen Soldaten, in Sichtweite.
Ich war bis dahin fest davon überzeugt, dass es meine Pflicht als Deutscher und Soldat war, unsere Heimat und die Reichshauptstadt vor den „Barbaren“ zu schützen wie weiland die Spartiaten an den Thermophylen Athen, wie ich es hier am WG gelernt hatte: „O xein, angelein…“ Die Seelower Höhen vor Berlin – das waren die Thermophylen vor Athen – die angreifende Rote Armee – das waren die Barbaren, die uns ausrotten würden, wenn sie unser Vaterland erobern. Wir haben es so gelernt, wie es hier an diesen Tafeln seit fast einem Jahrhundert steht: Dulce et decorum est pro patria mori -Jetzt wurde mir bewusst, das Soldat sein heißt, nicht nur zu sterben, sondern auch zu töten! Um zum Anlass unseres Gedenkens zurückzukommen: Auch Heinrich Jasper wurde getötet – von Menschen, die es bewusst taten.
Gilt es denn nicht mehr, das Gebot DU SOLLST NICHT TÖTEN ! ?
Dokumentation der Verlegung und der Würdigung auf den Seiten des Wilhelm-Gymnasiums